PARIS – MERCI ET PLUS

Stadtgeflüster

Paris
Merci et plus

Schwer zu sagen, welches Pariser Viertel gerade die Hot Spot-Liste der Trendsetter anführt. Ist es Sentier? Oberkampf? Canal Saint-Martin? Wir tippen auf Haut Marais, ein Stadtteil, der schon immer schön war und mit coolen Adressen punktet.

Januar 2021, Lesezeit: 10 Minuten

Wird nicht verkauft: Der tomatenrote Vintage-Fiat 500 gehört zum Merci-Inventar. Foto: Jérôme Galland

BoHo-Chic: Bei Merci gibt es das passende Mobiliar.
Foto: Jérôme Galland

Wann haben die Pariser begonnen, ihre Stadtteile mit Kurzformeln zu versehen? SoPi (South Pigalle) dürfte vor gut 15 Jahren den Anfang gemacht haben, es folgten BaBel (Bas Belleville), SoCo (South Colonel Fabien), BaBar (Bas Barbès) und andere. Das schicke Marais wurde dreigeteilt, dort gibt es SoMa (South Marais), BaMa (Bas Marais) und HaMa (Haut Marais). Letzteres gilt als Revier der BoBos – noch so ein Wort: Es steht für Bourgeois Bohemien –, und als der derzeit schickste Stadtteil in Paris. 

„Schuld“ am neuen Hype ist Marie-France Cohen, die 2009 in einer alten Tapetenfabrik den Concept Store Merci eröffnete. „Mir war klar“, sagt die Unternehmerin, „dass ich etwas Besonderes bieten musste, um die Leute in dieses Viertel zu locken, denn Pariser verlassen nur ungern ihre gewohnte Comfort Zone“. Merci wurde zu einer Stilhochburg zwischen altmodischen Läden und Werkstätten im Gassengewirr des nördlichen 3. Arrondissements. Und zum Vorbild für andere Geschäfte, Ateliers und Lokale, die nach und nach ins Quartier zogen und sich wohltuend vom Massengeschmack abheben, der die weiter südlich gelegenen Touristenpfade prägt. HaMa ist anders: Hier arbeiten einheimische Designer und Handwerker, die das „made in Paris“ lebendig halten – vieles, was es hier gibt, gibt es nur hier. 

Geografisch liegt das „obere“ Marais zwischen der jüngst herausgeputzten Place de la République im Norden, dem Picasso-Museum im Süden, den Boulevards Beaumarchais und Filles du Calvaire im Osten und der Rue du Temple im Westen. Als Schlagader gilt die Rue de Bretagne, deren Café-Terrassen nicht nur echtes Pariser Flair vermitteln, sondern auch von echten Parisern frequentiert werden. Zunehmend nicht nur von Anwohnern – wie noch vor ein paar Jahren. 

Denn inzwischen verlassen viele Hauptstädter ganz gerne ihr gewohntes Umfeld, um im Cafe Charlot ein Glas Chablis zu trinken oder im Chez Omar eine Portion Lamm-Couscous zu vertilgen. Sie kaufen ein paar Macarons bei Star-Chocolatier Jean-Paul Hevin oder einen Camembert im Käse-Paradies Jouannault. Keiner dieser Orte ist neu – rings um die Rue de Bretagne wurde schon immer gut gelebt. Doch nun profitieren sie vom Scheinwerferlicht, dass auf die neuen Läden und Lokale strahlt. „Neben den Stammkunden kommen zunehmend Fremde in unser Geschäft“, erzählt Priscilla Jouannault, „sie gehen auch auf den Markt nebenan und in die Boutiquen ringsum. Offenbar hat sich der Charme dieser Gegend herumgesprochen“.

Kultur

Zeitgeist:
Galerie Thaddaeus Ropac Paris Marais

Die vierstöckige, 1990 eröffnete Galerie des weltweit anerkannten österreichischen Kunst-Gurus Thaddaeus Ropac gilt als Plattform für zeitgenössische Künstler wie Daniel Richter, Silvie Fleury, Alex Katz oder Imi Knoebel. Noch bis zum 19. Juli 2021 sind die horizontalen Farbbahnen des irisch-amerikanischen Malers Sean Scully und die Selbstportraits des Chinesen Yan Pei-Ming zu sehen.
ropac.net
Foto: Charles Duprat

Kunsttempel:
Musée national Picasso

Das Museum befindet sich im großartigen Hôtel Salé aus dem 17. Jahrhundert, das schon per se einen Besuch wert ist. Es beherbergt eine konkurrenzlose Sammlung an Skizzen, Malereien, Skulpturen und persönlichen Dokumenten, die die Kreativität und das künstlerische Leben Picassos dokumentieren. Dazu: rund 150 Werke aus Picassos Privatkollektion inklusive Arbeiten von Matisse und Cézanne.
museepicassoparis.fr
Foto: Fabien Campoverde

Essen

Tolle Tacos:
Candelaria

Die mexikanische Küche dieser winzigen, unprätentiösen Taqueria gilt als besonders authentisch. Köstliche Tacos, Frijoles und Tostadas werden in der offenen Mini-Küche vor aller Augen zubereitet. Insider sorgen hier für eine solide Basis im Magen, bevor sie durch eine ungekennzeichnete Hintertür in eine schummerige Cocktailbar gehen und sich ein paar exzellente Margaritas mischen lassen. 52 Rue de Saintonge, Tel. +33 1 42 74 41 28

Marktküche:
Les Enfants du Marché

Seit fast drei Jahren hat sich das talentierte junge Gastronomen-Duo Michael Grosman und Laurent Perles einen Stand im Tohuwabohu des belebten Marché des Enfants Rouges gesichert. Zur häufig wechselnden Auswahl gehören Austern, gebratene Seezungen, Kalbshirn-Tempura oder Tintenfisch mit Ingwermayo. Die wenigen Hocker an Theke und Tischen sind hart umkämpft, die Wartezeit kann man mit einem Glas Weisswein oder einem Moscow Mule verkürzen.
lesenfantsdumarche.fr

Trinken

Vintage Chic: Grand Café Tortoni

Victoire de Taillac und ihr Ehemann Ramdane Touhami haben erst die großartige Pflegelinie Buly gegründet, 2016 dann den dazu passenden Laden mit Café in einer ehemaligen Gießerei aus dem 19. Jahrhundert eröffnet. Wer nichts kaufen möchte, setzt sich an den langen Holztresen und lässt sich zum Café Crème eine Schoko-Madeleine oder ein Onigiri aus der hauseigenen japanischen Bäckerei bringen. 45 rue de Saintonge,
Tel. +33 1 42 72 28 92

Speakeasy: Little Red Door

Der unscheinbare Eingang täuscht: Hinter der Tür befindet sich eine äußerst charmante Cocktailbar mit Natursteinwänden und Kerzenlicht. Hippe Pariser sitzen auf blauen Samtbarhockern oder an den wenigen Tischen, lassen sich kreative Cocktails in hübschen Vintage-Gläsern servieren und diskutieren mit den schick gekleideten Bartendern einen personalisierten Drink.
lrdparis.com
Foto: Tom McGeehan

Schlafen

Über der Backstube: Hotel du Petit Moulin

Christian Lacroix hat die Räume eines Gebäudes aus dem 17. Jahrhundert in ein so luxuriöses wie originelles Hotel mit faszinierenden Details verwandelt. Der Empfang befindet sich in einer ehemaligen Bäckerei mit original erhaltener Glas-Fassade. Die 17 Zimmer sind mit wild gemusterten Wandtapeten, echten und falschen Fellen, 60er-Jahre-Mobiliar, venezianischen Spiegeln und Modeskizzen des Meisters versehen.
hotelpetitmoulinparis.com

Shopping

Minimal Chic: The Broken Arm

Der wohl trendigste Concept Store der Stadt residiert auf zwei Etagen am eher ruhigen Square du Temple. An minimalistischen Kleiderständern hängen die jüngsten Modelle ausgesuchter Marken wie Balenciaga, Vetements, Marni, Isaac Reina oder Raf Simons. Dazu gibt es seltene Nike-Sneaker und Prada Slingbacks. Zum Laden gehört auch ein cooles Café mit leckeren Tagesgerichten.
the-broken-arm.com
Foto: François Coquerel

Schuhschachtel: Fred Marzo

Den kleinen Laden von Frédérick Marzorati muss man suchen, aber es lohnt sich, denn Fred-Marzo-Schuhe sind wunderbar verarbeitet, weiblich-verspielt und absolut einzigartig. Der ausgebildete Modedesigner hat bei Stéphane Kélian und Christian Louboutin gelernt, bevor er sein eigenes Label kreierte. Unter Insidern wird er schon als der nächste große Namen der Pariser Schuhmode gehandelt.
fredmarzo.com

Schlaraffenland: La Maison Plisson

Nach einer erfolgreichen Modekarriere hat sich Delphine Plisson 2015 einen Traum erfüllt: 500 Quadratmeter voller Delikatessen. Das Einkäufer-Team sucht in ganz Frankreich nach den besten Produkten, sei es Olivenöl aus Korsika, Ziegenkäse aus den Pyrenäen oder Obst von den Bauern aus dem Umland. Für alle, die hier schlagartig hungrig werden, gibt es ein nettes Terrassenrestaurant.
lamaisonplisson.com
Foto: Romain Ricard

Trendweisend: Merci

Man könnte den ganzen Tag in diesem mehrstöckigen Concept Store verbringen – und hätte dann wohl immer noch nicht das ganze Angebot an hippen Klamotten, coolen Brillen und Taschen, Möbeln und Küchenutensilien sowie netten Geschenkideen und lustigem Nonsense durchforstet. Zur Erholung stehen ein gemütliches Café und ein Lunch-Spot mit gesunden Leckereien bereit.
merci-merci.com
Foto: Jérôme Galland

Markt

Den zauberhaften Marché des Enfants-Rouges gibt es seit 1615, es ist der älteste Markt in Paris. Dennoch haftet ihm nichts Altmodisches an – ganz im Gegenteil. Man kann hier an Obst- und Gemüseständen, bei Fisch- und Käsehändlern einkaufen, doch dazwischen haben sich Mini-Restaurants etabliert, die vor allem mittags schwer belagert sind und Austern, Cous Cous, japanische Bento-Boxen, vegetarische Gerichte oder Bauern-Burger anbieten. 39 Rue de Bretagne

Geschichte

HaMa: ein altes Viertel.

Im späten 14. Jahrhundert ließ sich König Charles V mit seinem Hofstaat im „oberen“ Marais nieder, der französische Adel errichtete hier prächtige Kalksteinpaläste, etwa das Hôtel Salé (17. Jh.), in dem sich das Picasso Museum befindet, oder das Hôtel Carnavalet (16. Jh.), das das Museum für Stadtgeschichte beherbergt. Es heißt, in der Backstube, die dem Hotel du Petit Moulin jetzt als Lobby dient, habe Victor Hugo sein Baguette gekauft und vor dem Grand Café Tortoni weist eine Tafel darauf hin, dass sich hier die Gießerei befand, in der Rodins Denker entstand.

Mein HaMa

Victoire de Taillac,
Inhaberin von Buly und Grand Café Tortoni

Mein Mann und ich haben lange in diesem Teil des Marais nach geeigneten Räumen für unseren Laden mit Café gesucht. Das Viertel gefiel uns, denn es ist lebendig und pariserisch. Es gibt viele kleine Läden und Handwerksbetriebe und ständig kommen neue dazu. Wir selbst sind ein gutes Beispiel: In diesen Räumen arbeitete vorher ein Elektriker, als er in Rente ging, zogen wir ein. Genau so sind viele junge Unternehmen ins Quartier gekommen, man kann hier täglich etwas Neues entdecken. Anderes ist dagegen sehr alt. Der Marché des Enfants Rouges zum Beispiel, auf dem ich täglich einkaufe oder zu Mittag esse – meisten am Le Stand, dessen Inhaberin Tatiana köstliche vegetarische Gerichte zubereitet. Mit meinem Mann gehe ich oft in sein Lieblingsrestaurant, das neue Bagnard Saintonge yonisaada.com, wo es leckere mediterrane Gerichte wie Hummus, griechischen Salat oder südfranzösisches Pan Bagnat gibt. Schräg gegenüber steht das Café de la Poste (124 Rue de Turenne), das mir lieber ist als die Terrassen an der Rue de Bretagne. Am Abend trinke ich gerne eine Frozen Margarita in der Bar von Candelaria (52 Rue de Saintonge, Tel. +33 1 42 74 41 28), direkt gegenüber von unserem Laden.

Wenn ich mich selbst oder jemand anderen mit einem Geschenk verwöhnen möchte, dann sind die Buchhandlung Comme un roman comme-un-roman.com und die Chocolaterie Jean-Paul Hévin jeanpaulhevin.com exzellente Adressen. Vor kurzem habe ich auch eine originelle Boutique entdeckt: Marilyn Feltz marilynfeltz.com. Das ist eine kleine Pariser Produktion, sehr weiblich, leicht glamourös, aber ungewöhnlich, einzigartig und kein Stück traditionell. Ein paar Häuser weiter befindet sich ein witziger, winzig kleiner Laden: Caractère de Cochon (42 Rue Charlot), in dem ein ebenfalls winziger Mann die wohl besten Schinken-Sandwiches der Stadt verkauft.

Glamourös: Marilyn Feltz.

Köstlich: Schokolade von Jean-Paul Hévin.

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