KLOTZEN STATT KLECKERN – CHANDIGARH

Reiseroute

Chandigarh
Klotzen statt kleckern

Vor 70 Jahren entwarf Le Corbusier Indiens Stadt der Zukunft. Chandigarh wird von den Bewohnern geliebt und gelobt. Den Namen des Schweizer Architekten aber kennen nur wenige.

November 2020, Lesezeit: 17 Minuten

Das Secretariat (Zentralverwaltung), innen wie außen eine monumentale Steinwüste.

Ein sonniger Sonntag am See. Verliebte Paare, Familien mit Kindern, junge und alte Menschen flanieren in Gruppen am schön begrünten Ufer entlang. Die Stimmung ist friedlich und angenehm ruhig. Nur auf dem Steg, an dem schwanförmige Tretboote vermietet werden, ist die Hölle los: Schuhe ausziehen, Schwimmweste anlegen, bezahlen, einsteigen … all das geht nicht ohne Gedrängel und Juchzer ab. Die bunten Plastikschwäne sind vor allem bei Sonnenuntergang begehrt. Man möchte den Blick auf die sichelförmige Promenade, die geometrischen Konturen des Lake Sport Complex und die Bergkette im Hintergrund im sanften Licht der Dämmerung bewundern. Wer jetzt an ein Postkarten-Idyll in den Schweizer Alpen denkt, liegt falsch. Der Sukhna See befindet sich in Chandigarh, 250 Kilometer nördlich von Delhi, und die Shivalik Hills gehören zu den Ausläufern des Himalayas. Trotzdem ist die Gedankenverbindung zur Schweiz nicht ganz falsch, denn Seeufer, Lake Sport Complex und eigentlich ganz Chandigarh entstanden nach den Plänen von Charles-Édouard Jeanneret-Gris, besser bekannt als Le Corbusier.

Sehr beliebt, vor allem am Wochenende: der Tretbootverleih am Sukhna-See.

Der geschichtliche Hintergrund in Kurzform: Im August 1947 besiegelte das Ende der britischen Kolonialherrschaft die Teilung des indischen Subkontinents in zwei Staaten, Indien und Pakistan. Die Grenze verläuft mitten durch den Bundesstaat Punjab, dessen ehemalige Hauptstadt Lahore nun in Pakistan liegt. Der indische Teil Punjabs brauchte einen neuen Verwaltungssitz und Indiens damaliger Premierminister Jawaharlal Nehru beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen: Die neue Stadt sollte ein Symbol für Modernität und Freiheit werden, unbeeinflusst von Traditionen und kolonialer Unterwerfung.

Oben: Le Corbusier-Bild im Parlament (Palace of Assembly). Unten: Neelam Cinema in Sektor 17.

Le Corbusier zählte zu den berühmtesten Architekten seiner Zeit. „Corbu war ein Genie, er war allen anderen in jeder Hinsicht weit voraus“, sagt S.D. Sharma, Architekt der ersten Stunde im Chandigarh-Team, „seine Vision für Chandigarh ist das großartigste Experiment in der Geschichte der Architektur“. Das mag stimmen. Le Corbusier entwarf den Masterplan für eine 500.000-Einwohner-Stadt. Er gestaltete monumentale Verwaltungsgebäude sowie einen Stadtgrundriss, der im Wesentlichen aus 46 Sektoren, sieben Straßentypen, großzügigen Grünanlagen, grauen Betonblöcken und 14 verschiedenen Wohnhaus-Modellen bestand. Wer heute nach Chandigarh kommt, verliert leicht die Orientierung. Welche Straße? Welcher Sektor? Welcher Block? Alles sieht gleich aus und auf den ersten Blick nicht sehr indisch: Der Verkehr flutscht problemlos über mehrspurige Boulevards. Es gibt Fahrrad- und Gehwege unter immergrünen Mango-Bäumen. Das Gras der Verkehrsinseln ist frisch gemäht, in der Mitte blühen Blumen. Nirgendwo ist eine Kuh, ein bettelndes Kind, eine Müllhalde zu sehen.

Die Stadt wird nicht zufällig „city beautiful“ genannt. „Der See, das viele Grün, die gute Luft, die Sauberkeit – Chandigarh ist die beste Stadt in Indien“, schwärmt ein Familienvater, der am frühen Abend mit Kind und Kegel durch Sektor 17 schlendert. Eine Nachfrage zu den Gebäuden überrascht ihn: „Die Häuser? Die Häuser sind ok“, sagt er ratlos und folgt seinen Kindern, die einen bunt beleuchteten Eis-Stand auf dem Fußballfeld großen Neelam Plaza ansteuern. Der Platz und die vierstöckigen Gebäude ringsum sind überdimensional und aus grauem Beton, doch dazwischen wuselt das Leben. Ein Barbier hat seinen Arbeitsplatz unter einem Baum aufgebaut, jeder Kunde wird eingeschäumt, rasiert, mit Rosenöl massiert und umhüllt von einer süßlichen Duftwolke entlassen. Ein paar Bäume weiter flackert der bläuliche Schein eines Gaskochers.
Ein Junge rührt in einem Blechtopf, um ihn herum warten Kunden auf einen Pappbecher Chai. Der gezuckerte und nach Kardamom duftende Milch-Tee wird mehrfach aufgekocht und ist auch für westliche Mägen ok.

Der Alltag ist in Chandigarh so bunt, lebhaft und abwechslungsreich wie in jeder anderen indischen Großstadt.

Sektor 17 ist Chandigarhs Zentrum mit Kinos, Geschäften und Restaurants. Vor allem am Wochenende ist die halbe Stadt hier unterwegs. Das hat sich nicht zufällig ergeben, Le Corbusier wollte es so. „Er hat Chandigarh genau aufgeteilt“, erklärt Chef-Architekt Kapil Setia. Der smarte Inder sitzt an einem akribisch aufgeräumten Riesenschreibtisch in einem administrativen Beton-Bunker in Sektor 9. An der Wand hängt ein 50 Jahre alter Stadtplan, auf dem das Gitter-Muster der Straßenzüge und Sektoren deutlich wird. „Le Corbusier hat den Lifestyle der Inder verändert. Sein Masterplan entspricht in keinster Weise unseren Gewohnheiten“, sagt Setia, „wir wohnen gerne dicht beieinander in organisch gewachsenen Strukturen mit öffentlichen Bereichen, die wir teilen. In Chandigarh ist jeder Quadratmeter ordentlich verplant und bestimmten Aktivitäten zugeordnet. Diese Förmlichkeit hat uns anfangs gestört. Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt. Unsere Kinder spielen jetzt eben nicht mehr vor der Haustür, sondern auf dem Spielplatz und der nächste Markt ist oft nur mit dem Auto zu erreichen“.

Vieles von dem, was ordentlich geplant gewesen war, wurde inzwischen stillschweigend korrigiert. Die Garküche am Straßenrand, an der knusprig frittierte Samosas mit Kartoffelfüllung verkauft werden, ist im Masterplan ebenso wenig vorgesehen wie die vor Busbahnhof, Märkten oder Kinos geparkten Fahrrad-Rikschas oder ein ambulanter Bügelservice mit einem kabellosen Plätteisen, das durch glühende Holzkohle erhitzt wird. Hinter dicken Mauern wurden die Wohnverhältnisse geändert, etwa indem im Hinterhof ein zusätzliches Zimmer eingerichtet oder in hohen Räumen eine Zwischenetage eingezogen wurde. „Was soll ich machen?“, fragt Kapil Setia, „Chandigarhs Bevölkerung ist auf 1,2 Millionen Menschen angewachsen. Ich möchte nicht, dass sie auf der Straße schlafen“.

Imposant und farbenprächtig: der Kapitol Komplex, Sitz des Parlaments.

Als architektonisches Glanzlicht der Stadt gilt der Capitol Komplex in Sektor 1. Die Monumentalbauten des aus Oberstem Gerichtshof (High Court), Zentralverwaltung (Secretariat) und Parlament (Assembly) bestehenden Regierungsviertels wurden im vergangenen Sommer ins UNESCO Weltkulturerbe aufgenommen. Nirgendwo ist Le Corbusiers Hang zum Größenwahn deutlicher zu sehen, allein das Secretariat ist 254 Meter lang und 42 Meter hoch, 10 bis 15.000 Menschen arbeiten dort, aus der Ferne wirkt der Bau wie ein durch das Grün der Baumkronen pflügender Ozeandampfer.

Le Corbusiers Masterplan aus den 1960er Jahren mit genau eingeteilten Sektoren und gitterartig angelegten Straßen.

Neuerdings gibt es im militärisch abgesicherten Regierungsviertel ein Touristen-Informationszentrum, von wo aus auch geführte Spaziergänge organisiert werden. Die Guides sind oft Studenten des renommierten Chandigarh College of Architecture. Aastha und Navya, beide im fünften und letzten Jahr ihres Studiums, gehören zum Team, das sich dafür kostenlos zur Verfügung stellt. „Mir war aufgefallen, wie wenig die Bewohner von Chandigarh über Le Corbusier wissen“, sagt Navya aus Delhi, „die Menschen ahnen nicht, wie wertvoll ihre Stadt ist“. Aashta kann das erklären: „Bis vor kurzem wurde in den Schulen kein Wort über Le Corbusier verloren. Erst seit 2015, als dessen 50. Todestag für ein wenig Aufmerksamkeit sorgte, gibt es überhaupt Unterrichtsstunden über seine Architektur“. Sie stammt aus Chandigarh, ihre beide Eltern sind Architekten, ihr war immer klar, was sie später einmal tun würde: bauen. Wo? Egal, aber nicht in Chandigarh, und nicht im Le-Corbusier-Stil: „Zu viel Beton“, sagt sie. Zu viel Beton, sagt auch Surinder Sawhney, ebenfalls ein Absolvent des Chandigarh College of Architecture. Sawhney ist in Chandigarh aufgewachsen, sein Vater war Polizeichef von Punjab – ein Posten, der der Familie das Anrecht gab, in einer der modernistischen Villen zu leben, die in Le Corbusiers Masterplan für hohe Beamte vorgesehen waren und die größtenteils von dessen Cousin Pierre Jeanneret entworfen wurden. Jeanneret lebte 14 Jahre lang in Chandigarh. Zusammen mit seinem Team schuf er sämtliche Alltagsgebäude, die in einer Stadt gebraucht werden, inklusive der Wohnhäuser und des Mobiliars dafür.

Die Sawhneys residierten erst im Haus, das Pierre Jeannert selbst bewohnt hatte: Ein zweistöckiges Gebäude mit Salons, Küche, Büro und Personalunterkunft im Erdgeschoss und drei Schlafzimmern in der ersten Etage – eines davon benutzte Le Corbusier bei seinen regelmäßigen Besuchen. Der weiße Bungalow steht in einem großen Garten und war bis vor kurzem völlig verwahrlost. „Unverständlich“, sagt Surinder Sawhney. Er lässt keinen Zweifel an seiner Bewunderung für Le Corbusier und dessen Team. „Keine Stadt ist perfekt, aber Chandigarh funktioniert“, sagt er und spult die Vorteile ab: Chandigarh hat die sauberste Luft und die meisten Grünflächen aller indischen Großstädte, das höchste Durchschnittseinkommen des Landes, die niedrigste Kindersterblichkeit, so gut wie keine Arbeitslosigkeit, hervorragende Krankenhäuser und Hochschulen. In Chandigarh fallen weder Strom noch Wasser aus, die Stadt gilt als die reichste des Landes und nach dem „Cross National Happiness Index“ auch als die glücklichste.

Das ehemalige Wohnhaus von Pierre Jeanneret stand lange leer. Heute beherbergt es ein Museum.

Aber ja, zu viel Beton. „Beton ist für unser Klima nicht geeignet, er platzt, wenn er zu heiß wird, an vielen Fassaden ist zu beobachten, welche Spuren Alter und Regenwasser hinterlassen“, erklärt Surinder Sawhney. Zuviel Beton ist jedoch nicht der einzige Vorwurf, den er erhebt. Wie Kapil Setia bemängelt er die Gebäude: Sie sind ungeeignet für den indischen Lebensstil. Zu groß, zu geradlinig, zu kommunikationsfeindlich: „Es gibt alte Leute, die vereinsamen in ihren Behausungen. In den vornehmen nördlichen Sektoren lebt manchmal ein Mensch auf 400 Quadratmetern, das ist Platzverschwendung und Blödsinn“. Seine Theorie lautet: Man kann Chandigarhs Strukturen nicht einfrieren. Eine Stadt lebt und verändert sich. Gute Architektur verträgt das und Stillstand wäre nicht im Sinne von Le Corbusier. So sehen das viele in Chandigarh. Man arrangiert sich, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Der Journalist Vipin Pubby sitzt mit Kollegen im nostalgischen Indian Coffee House vor einer Platte mit würzigen Masala Dosa-Pfannkuchen. „Wir haben eine dieser Riesenwohnungen in Arbeitsräume aufgeteilt“, erzählt er, „in einem arbeitet ein Schneider, in zwei anderen hat eine Augenärztin ihre Praxis, ich nutze ein Zimmer als Büro“. Es wird nicht lange dauern, bis die erste Garküche vor der Tür steht und Mittagessen verkauft. Nur auf die Kuh wird man noch warten müssen.

Sektor 17: Hier findet das meiste öffentliche Leben in Kinos, Geschäften und Restaurants statt.

Reiseplanung

Enchanting Travels

Der aus Indien stammende Parikshat Laxminarayan und der Deutsche Alexander Metzler gründeten Enchanting Travels im Herbst 2004. Indien ist für den Reiseveranstalter eine Herzensangelegenheit geblieben, dank Büros in Bangalore und in Delhi steht den Mitarbeitern ein sensationelles Netzwerk zur Verfügung. Enchanting Travels setzt auf hochwertigen Individualtourismus und bietet maßgeschneiderte Fernreisen in ca. 70 Länder in Afrika, Asien, Lateinamerika, Australien, Ozeanien und die Antarktis an. enchantingtravels.com/de

Hotel

Taj Chandigarh

Mit Abstand das beste Hotel der Stadt. Großzügige, moderne und sehr helle Zimmer mit schönen Bädern, Dachterrasse mit Pool, freundlicher und effizienter Service, gute Restaurants. Block 9, Sector 17-A, Tel. +91 172 661 30 00, tajhotels.com, DZ ab 120 Euro

Restaurants

Indian Coffee House

Stimmungsvolles, über 50 Jahre altes Café mitten im quirligen Sektor 17. Man sitzt an einfachen Holztischen, wird aber von eleganten Kellnern bedient. Der Kaffee ist hervorragend, aus der Küche kommen Omeletts, Burgers und Käse-Toasts, aber auch indische Spezialitäten. SCO 12, Sector 17-E, Tel. +91 172 270 28 04

Swagath

Schickes Restaurant mit einer riesigen Speise-Auswahl. Bekannt ist die gute Fischküche: Probieren sollte man den frittierten Pomfret und Fish Patrani, einen mit Koriander, Minze und Chili im Bananenblatt gedünsteten Fisch. SCO 7, Madhya Marg, Sector 26, Tel. +91 172 304 56 78

Sport Lake Komplex

Eigentlich „members only“, aber als westlicher Ausländer kommt man problemlos hinein. Die Tische stehen direkt am Seeufer, zum Curry-Hühnchen lässt man sich ein kühles Kingfisher Bier schmecken. Sector 1, Tel. +91 172 274 06 24

Shopping

Anokhi

Ein toller Laden für farbenprächtige Textilien und Accessoires: Es gibt schöne Patchwork-Bettdecken, schicke Tunikas, zart gearbeitete Schmuckstücke und Schals. SCF 5, Inner Market, Sector 7-C, Tel. +91 172 279 01 07, anokhi.com

Fabindia

Neben den typisch indischen Salwar Kameez (Hosen-Tunika-Kombi) und Dupattas (Schals) gibt es hier auch Natur-Kosmetik, leckere Marmeladen, Tees und hübsche Haus-Accessoires. SCO 50-51, Sector 17-A, Tel. +91 172 272 61 03, fabindia.com

Capital Book Depot

Wer Bücher und Bildbände über die Stadt sucht, einen Reiseführer oder auch nur einen guten Schmöker, wird hier fündig. Es gibt auch Comics, Kochbücher und wunderschöne Agendas. SCO 2, Sector 17-E, Tel. +91 172 270 22 60

Kultur

Nek Chand’s Rock Garden

Nek Chand hat aus ausrangierten Baumaterialien, gefundenen Flusssteinen und anderen Dingen eine labyrinthische Fantasiewelt geformt. Sein umfangreiches Werk wurde 1970 entdeckt, heute ist der Steingarten die beliebteste Touristenattraktion der Stadt. Sector 1, Tel. +91 172 740 645, nekchand.com

Architecture Museum

Fotos, Pläne, Landkarten und Briefe, aber auch Modelle und Möbel, die die Entstehungsgeschichte der Stadt dokumentieren. Jan Marg, Museum Complex, Sector 10-C, Tel. +91 172 274 02 61, chdmuseum.gov.in

Le Corbusier Centre

Im Gebäude, in dem einst das Architekten-Team um Le Corbusier seine Büros hatte, ist ein hübsches und sehr informatives Museum mit vielen Fotos, Schriftstücken und Zeichnungen entstanden. Madhya Marg, Sector 19-B, Tel. +91 172 277 70 77

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