MONTREAL – NEUER ANFANG FÜR MILE END

Stadtgeflüster

Montreal
Neuer Anfang für Mile End

Das ehemalige Einwanderer-Viertel Mile End hat sich vom Multi-Kulti-Quartier zum Hot Spot entwickelt. Neben Künstlern, Designern und jungen Familien leben hier auch Menschen, die sich eine Villa am schicken Mont Royal leisten könnten.

Januar 2021, Lesezeit: 13 Minuten

Montréal gilt als die europäischste Stadt Kanadas, der Stadtteil Mile End wird diesem Image gerecht.

Jede Stadt in der kanadischen Provinz Quebec hat eine Rue Principale. Montreal nicht. Wenn Einheimische „The Main“ bzw. auf Französisch „La Main“ sagen, meinen sie den Saint-Laurent Boulevard – eine gefühlte Hauptstraße ohne offiziellen Titel. Die elf Kilometer lange „Main“ startet am Vieux Port und führt durch Altstadt, Chinatown und das Quartier des Spectacles bis nach Little Italy. Ungefähr auf halber Höhe, jenseits der breiten Sherbrooke Street beginnt das Hippster-Land mit Cafés, exotischen Esslokalen und kleinen Läden. So richtig spannend aber wird es ab der Mont-Royal Avenue, im angesagtesten Stadtteil Montreals: Mile End.

Früher war dies das Viertel der Italiener, der Griechen, der Portugiesen und der jüdischen Gemeinschaft. Heute lebt hier eine polyglotte Mischung aus Chassidim und Kreativen, die die rund zehn Häuserblocks von Mile End zu einem der interessantesten und künstlerisch aktivsten Ecken Nordamerikas macht. Dazu kommt: Die Gegend ist auch optisch attraktiv. Alte viktorianische Stadthäuser mit ihren extern angebrachten Metalltreppen flankieren lange Straßenzüge, die kleinen Vorgärten sind meist idyllisch verwildert. Ehemalige Textilfabriken wurden von IT-Unternehmen zu Headoffices umgestaltet, die großflächigen Fassaden von Straßenkünstlern bemalt, in Garagen und Lagerhallen sind Bars, Vintage-Läden und Kunstgalerien gezogen.

Geografisch gehört Mile End zum Stadtteil Plateau, das nördlich von Downtown und zu Füßen des Mont Royal liegt. Der kanadische Kult-Chansonnier Leonard Cohen hat hier gelebt, Rufus Wainwright – Sänger, Musiker und Komponist – ist mit seiner ebenfalls singenden Schwester Martha in Mile End aufgewachsen. Offensichtlich verströmt das Quartier ein gewisses künstlerisches Potenzial.

Trotzdem ist niemand abgehoben. Das Angenehme an Kanada, Montreal und Mile End ist die unaufgeregte Lässigkeit, mit der gelebt und gearbeitet wird. Noch immer führen Italiener, Griechen und Portugiesen ihre Cafés und Restaurants – teilweise in seit 50 Jahren unveränderten Räumlichkeiten. Und wenn der Saint-Laurent Boulevard die Bedürfnisse der Trendsetter befriedigt, dann ist die parallel verlaufende Parc Avenue die Straße für alle praktischen Dinge: Dort gibt es noch eine alte Quincaillerie, eine Papeterie und das historische Rialto-Theater (oben, Foto: Charlie Ciliberto – Inhouse Studios Inc) – alles echt vintage und schon allein deshalb echt cool.

Essen

Pasta e basta:
Il Miglio

Das Lokal ist klein und eher für eine schnelle Mahlzeit gedacht, aber die angebotenen Pasta-Gerichte sind exzellent: Lasagne, Linguine alle Vongole, Campanelle mit Pilzen … Alle Nudeln sind hausgemacht wie auch die beinahe täglich wechselnden Soßen. Einheimische holen sich die Speisen gerne ab, man kann seine Ravioli aber auch an der langen zentralen Tafel oder am Esstresen vor der Fensterfront genießen.
5235 St-Laurent Blvd, Tel. +1 514 360 3069, ilmiglio.ca
Foto: Dominique Lafond

Griechischer Salat:
Estiatorio Milos

Costas Spiliadis gilt als Pionier im Bereich der gehobenen griechischen Küche. Sein erstes Lokal entstand 1979 und präsentierte sich mit einer damals noch revolutionären offenen Küche und einem inzwischen viel kopierten „Fischmarkt“. Serviert werden Mittelmeerfische vom Tuna, über Schwertfisch und Doraden bis zu Jakobsmuscheln und Kalamari, zubereitet in bestem griechisch-mediterranen Stil.
5357 Parc Ave, Tel. +1 514 272 3522, estiatoriomilos.com

Brot und mehr:
Hof Kelsten

Montreals feinste Restaurants – Toqué, Le Club Chasse et Pêche, Joe Beef … – bestellen ihr Brot bei Jeffrey Finkelstein, denn in seiner Bäckerei entstehen die besten Baguettes, Ciabattas und Vollkornbrote der Stadt. Im vorderen Bereich des durchgestylten Ladenlokals kann man auch frühstücken oder eine Kleinigkeit zu Mittag essen und dabei ein paar typische jüdische Spezialitäten probieren.
4524 St-Laurent Blvd, Tel. +1 514 649 7991, hofkelsten.com
Foto: Paul Labonté

Veggie-Paradies:
La Panthère Verte

Die meisten Gäste kommen wegen der köstlichen Falafel, die pur, im Pita-Brot oder als „Bol“ mit grüner Soße verkauft werden. Das große Lokal mit seinen Grünpflanzen, Holztischen und Kristalllüstern ist aber auch für das Shawarma, die vegetarischen Burger und die unglaublich leckeren Brownies beliebt. Dazu: Obstsäfte und Smoothies. Fast alles ist auch als „take away“ zu haben.
160 St-Viateur St E, Tel. +1 514 508 5564, lapanthereverte.com

Trinken

Cool Cappuccino:
Café Eclair

Der jüngste Neuzugang im an Cafés wahrlich nicht armen Mile End ist ein schneeweißes, ultramodernes, minimalistisch gestaltetes Mini-Lokal, das gleichzeitig als Buchhandlung fungiert. Es gibt nur einen langen Gemeinschaftstisch und ein paar Plätze vor der Tür, dafür besten Espresso und Filterkaffee, köstliche Viennoiserien (natürlich auch Eclairs) und viele hippe Besucher mit Laptop.
12 Maguire St, Tel. +1 514 495 7880

Speakeasy:
Big in Japan

Aus einer ehemaligen portugiesischen Kaschemme mit Geldautomaten wurde die wohl schönste Bar der Stadt. Sie ist schwer zu finden, wird durch eine nicht weiter gekennzeichnete Tür betreten und punktet mit dekadentem Dekor, Ledersitzen, Samtvorhängen und Kerzen-Meer. Serviert werden extrem leckere Cocktails, Sakes und japanische Whiskys kombiniert mit zarter Garnelen-Ceviche und dem Sound von Johnny Cash.
4175 St-Laurent Blvd, Tel. +1 438 380 5658
Foto: Dominique Lafond

Mikrobrauerei:
Dieu du Ciel

Für Liebhaber exotischer hausgebrauter Biersorten ist dies „the place to be“ – entsprechend voll sind das schicke Brewpub mit Blick auf die Stahltanks und die Terrasse vor der Tür. Als besondere Spezialitäten des Hauses gelten das berühmte Imperial Stout „Péché Mortel“, das mit Kumquats aromatisierte Indian Pale Ale „Disco Soleil“ oder das sanft nach Blüten duftende „Rose d’Hibiscus“.
29 Laurier Ave E, Tel. +1 514 490 9555, dieuduciel.com

Wohnen

Ganz in Weiß:
Casa Bianca

Die 1912 im französischen Renaissancestil errichtete Villa war erst ein Privathaus, dann eine jüdische Klinik. Jetzt ist es ein charmantes Bed & Breakfast mit fünf komplett weißen Zimmern mit Erkern, schönen Parkettböden, hohen Fenstern und frei stehenden Badewannen. Das Frühstück ist selbstverständlich „organic“ und man kann eine Yoga-Lehrerin ins Haus bestellen.
4351 Esplanade Ave, Tel. +1 514 312 3837, casabianca.ca, DZ ab ca. 90 Euro

Shopping

City Bags:
Lowell Mtl

Sie heißen „Mont-Royal“, „Atwater“ oder „St-Zotique“, bestehen aus robustem amerikanischen und kanadischem Leder, das von meist kleinen, alteingesessenen und auf Umweltverträglichkeit bedachten Gerbereien verarbeitet wird. Design und Produktion der Taschen und Rucksäcke finden mitten in Montreal statt und reflektieren den zugleich zeitgeistorientierten und naturverbundenen Charakter der Stadt.
5298 St-Laurent Blvd, Tel. +1 514 544 6518, lowellmtl.ca

Mode von gestern:
Annex Vintage

Vintage-Läden sind in Mile End keine Seltenheit, aber Annex war bei seiner Eröffnung 2008 der erste und zählt nach wie vor zu den besten Adressen um ein Blumenkleid, eine hoch taillierte Jeans-Shorts oder ein Paar Plateau-Schuhe aus den 90er Jahren zu kaufen. In den Auslagen liegen auch Vintage-Pins, ausgesuchte Schmuckstücke und lokal produzierte Hautpflegemittel.
56 St-Viateur St, Tel. +1 514 903 4404, annexvintage.com

Staunen

Großes Spektakel:
Théâtre Rialto

Der 1924 als Kino eröffnete Prachtpalast wurde in den vergangenen Jahrzehnten erfolglos für alles Mögliche genutzt. Dann fand sich ein schlauer Investor, der ihn kaufte, die Marmortreppen, Deckenmalereien und vergoldeten Stuckaturen renovierte und mit Live-Konzerten, Tanzaufführungen und Privat-Events neu belebte. Mit etwas Glück kann man als vorbeikommender Besucher einen Blick hineinwerfen.
5723 Parc Ave, Tel. +1 514 770 7773, theatrerialto.ca

Amerikanische Künstler:
Beaux-Arts des Amériques

In den weitläufigen Räumlichkeiten der Galerie werden zeitgenössische Arbeiten von Künstlern aus Kanada und dem Quebec, aber auch aus Nord-, Süd- und Mittelamerika sowie aus der Karibik ausgestellt. Die Künstler sind mal mehr, mal weniger bekannt, ihre Werke spiegeln ihre Zeit, ihr Umfeld und ihre Kultur wider. Regelmäßig zu sehen sind Arbeiten von Lyne Bastien, Craig Hood, Susan G. Scott oder Barry Gealt.
5432 St-Laurent Blvd, Tel. +1 514 481 2111, beauxartsdesameriques.com

Food Tour

Natürlich kann man auch einfach losziehen – Mile End ist überschaubar und die Orientierung leicht. Man kann hier und dort einkehren und auf gut Glück etwas bestellen. Doch wer nicht nur erkunden und essen möchte, sondern auch etwas über die Lokale, ihre Besitzer und Hintergründe erfahren möchte, bucht einen Guide von Local Food Tours. Er/sie führt nicht nur ohne Umwege zu den interessantesten Orten, sondern weiß auch genau, was dort gekostet werden sollte. localfoodtours.com/montreal

Mont Royal

Montreals Hausberg liegt zwar nicht in Mile End – dazu ist er viel zu groß – aber genau daneben. Der königliche Berg bietet nicht nur eine grüne Oase, Ruhe und sehr, sehr viel Platz, sondern auch die wohl schönsten Aussichten über die Stadt. Es gibt vielfältige Sportmöglichkeiten und Angebote für Outdoor-Aktivitäten, einen künstlichen See, ein Observatorium und ein Chalet mit Platz für über 700 Menschen. lemontroyal.qc.ca

Mein Mile End

Martha Wainwright,
Folk-Rock-Sängerin und Musikerin

Meine Mutter (Sängerin Kate McGarrigle Anm. d. Red.) hatte Ende der 1990er Jahre ein Haus in Mile End gekauft, mein Bruder Rufus und ich sind dort aufgewachsen. Damals gab es die ganzen Cafés und Läden noch nicht, wir lebten in einem charmanten Immigranten-Viertel zwischen Griechen, Italienern und Portugiesen. Heute ist Mile End der angesagteste Stadtteil Montreals. Viele Künstler wohnen hier, es gibt eine junge und sehr avantgardistische Kunstszene. Ich selbst habe gerade mit URSA (5589 Ave du Parc) eine Art Künstlertreffpunkt mit Café eröffnet. Es ist noch nicht ganz fertig, aber ich möchte dort Musik- und Kunstevents organisieren. Gleich um die Ecke befindet sich der berühmte St-Viateur Bagel (stviateurbagel.com). Die Bäckerei mit Laden hat rund um die Uhr geöffnet und immer stehen Leute Schlange, um sich die mit Sesam oder Mohn bestreuten Kringel zu kaufen. Meine Lieblingsstraße ist die Bernard Avenue. Dort gibt es zwei gute Schallplattenläden – Rama Records (larama.ca) und Sonorama Disques (sonoramadisques.com) –, die großartige Buchhandlung Librairie Drawn & Quarterly (drawnandquarterly.com), und das coole Café Le Dépanneur (206 Rue Bernard O), in dem zu fast jeder Tageszeit irgendwer Musik macht. Mit Freunden gehe ich gerne ins französische Bistro Leméac, (restaurantlemeac.com). Es ist fein, aber sehr lässig – wie unser ganzes Viertel. marthawainwright.com

Sonorama: Fundgrube für Liebhaber von LPs.

Art of Bagel: Bei St-Viateur gibt es
seit 1957 die besten der Stadt.

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